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Audiovisuologie: Interdisziplinäres Kompendium der audiovisuellen Kultur

In der heutigen audiovisuellen Medienkultur ist die Koppelung von Bildern und Tönen eine allgegenwärtige Selbstverständlichkeit. Die technischen und ästhetischen Grenzen zwischen ihnen sind fließend geworden. Mit der Digitalität haben sich auditive und visuelle Informationen in Bits und Bytes aufgelöst und sind daher auf beliebige Weise verknüpfbar oder ineinander übersetzbar. Damit einhergehend hat sich auch ein theoretisches Interesse an Konzepten zu einer Verbindung von Bildern und Klängen, der Vereinigung der Künste sowie ihrer Geschichte entwickelt. Im Rückblick erscheint die Sehnsucht nach der Verschmelzung von Hören und Sehen als jahrtausendealte kulturelle Konstante, die sich bis zu antiken Modellen zur Analogie von Farben und Klängen zurückverfolgen lässt.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit dem Aufkommen der technischen Medien dann versucht, die menschliche audiovisuelle Wahrnehmung nachzubilden, sie zu intensivieren, zu erweitern und schließlich in virtuelle Welten zu überführen, die eine Erfüllung utopischer Synthese-Fantasien versprechen. In diesem Spannungsfeld zwischen natürlicher und künstlich (auch künstlerisch) hergestellter Audiovisualität, zwischen ihrem immersiven oder auch analytischem Einsatz, stellt sich umso mehr die Frage, inwieweit wir uns eigentlich bewusst sind oder machen können, was zwischen dem Auditiven und dem Visuellen passiert.

Dabei ist die Konvergenz des Audiovisuellen nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch in der Wahrnehmungsforschung wird die Getrenntheit der Sinne zunehmend hinterfragt.
Gleichzeitig fehlt aber ein genuiner audiovisueller Diskurs hinsichtlich der hybriden, audiovisuellen Kunstwerke selbst: Sie erhalten nach wie vor ihre Bewertung meist in einem spezifischen Kontext und werden beispielsweise entweder in der bildenden Kunst, in der Musik, im Film oder in der Clubkultur verortet. Die Regeln der Kritik folgen dabei nicht nur jeweils unterschiedlichen Maßstäben, sondern vernachlässigen häufig eine Seite des audiovisuellen Konstrukts. Auch wenn die mediale Kultur multisensuell geworden ist, gibt es noch kein etabliertes Dazwischen, das den hybriden Kunstformen gerecht werden würde.

Es ist wohl kaum möglich, die Vielgestaltigkeit des Themas durch nur eine Zugangsweise zu erschließen, ohne dabei wichtige Teilaspekte auszuklammern. Mit dem Gesamtprojekt »SEE THIS SOUND« werden deshalb unterschiedliche Ansätze als Module zu einer solchen multiperspektivischen Darstellung vorgestellt: eine umfangreiche Ausstellung mit begleitendem Katalog1, ein Symposium2, zwei wissenschaftliche Buchpublikationen3, sowie das übergreifende Webarchiv, das alle zuvor genannten Bereiche dokumentiert und miteinander vernetzt.

Auch die geisteswissenschaftliche Zuständigkeit für die Beziehungen zwischen Bildern und Klängen ist nach wie vor auf verschiedene, isoliert agierende Fachrichtungen verteilt und findet hier oft nur an deren Rändern einen Platz. Zwar sind einzelne künstlerische Ausdrucksformen oder historische Phasen der Relationen von Klang und Bild in Kunst, Medien und Wahrnehmung Gegenstand zahlreicher profunder wissenschaftlicher Untersuchungen.4 Auch haben sich umfangreiche Ausstellungen der Geschichte der Korrespondenzen von Musik und bildender Kunst gewidmet.5 Doch ein grundlegender Überblick zu den multiplen künstlerischen, technischen und wahrnehmungsbezogenen Perspektiven auf die Verbindungen von auditiven und visuellen Phänomenen fehlt bislang.

Das vorliegende Kompendium der audiovisuellen Kultur ist als Beitrag zu verstehen, diese Lücke zu schließen, indem es die Erkenntnisse einzelner Disziplinen bündelt und eine übergreifende Wissensbasis zu den Bild-Ton-Relationen bietet. Es enthält 35 Beiträge, die sowohl das Spektrum der audiovisuellen Kunstformen als auch Verfahren der Verknüpfung von auditiven und visuellen Phänomenen sowie die Modalitäten ihrer Wahrnehmung vorstellen. Durch diese Kombination von kulturhistorischen Längsschnitten und systematischen Querschnitten erschließt sich das Feld der audiovisuellen Künste und Phänomene auf doppelte Weise. Dabei konzentrieren sich die von ExpertInnen aus Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Filmtheorie, Theaterwissenschaft, Medienwissenschaft, Software Studies, Medienkunst, Wahrnehmungspsychologie und Neurologie verfassten Artikel auf deren Kerngebiete, sind aber so angelegt, dass sie einander berühren, fortschreiben und aufeinander verweisen.
Themenübergreifende Aspekte, die in den historischen Darstellungen nur angerissen werden können, werden in längeren Essays vertieft. Diese widmen sich beispielsweise dem Verhältnis von Popkultur und bildender Kunst, der Rolle von technischen Apparaten im künstlerischen Produktionsprozess oder der Erschaffung spezifisch audiovisueller Erfahrungssituationen und ihren wahrnehmungsphysiologischen Grundlagen.6
Alle Texte werden außerdem ergänzt durch Analysen exemplarischer Werke, die allgemeine Entwicklungen anhand konkreter Umsetzungen anschaulich machen.

Durch diese Konzeption eröffnet sich in der Online-Präsentation die Möglichkeit eines multiperspektivischen Zugangs zum Thema. Es werden nicht nur die einzelnen Beiträge an ihren thematischen Schnittstellen untereinander verknüpft sowie mit relevanten Werkanalysen verbunden, sondern weitergehende Zusammenhänge zwischen ihnen sichtbar gemacht.
Der chronologische Aufbau der historischen Beiträge zu den audiovisuellen Kunstformen ermöglicht eine abschnittsweise Kennzeichnung des jeweils behandelten Zeithorizonts und erschließt neben der diachronen Perspektive jedes einzelnen Textes auch eine textübergreifende synchrone Betrachtungsweise.
Themenspezifische Schlagworte stellen konzeptuelle Verbindungslinien sowohl zwischen den einzelnen Kunstformen als auch den ihnen zugrunde liegenden Verfahrenstechniken und Wahrnehmungsmodalitäten sowie übergreifenden Fragestellungen her.
Die datenbankgestützte Erfassung und Verknüpfung aller relevanten Entitäten innerhalb der einzelnen Artikel – also Personen, Werke, Institutionen oder Veranstaltungen bis hin zu Software-Tools und Hardware – gewährt darüber hinaus nicht nur eine umfassende und intertextuelle Recherche, sondern gibt auch einen Überblick über die Kontexte, in denen sie jeweils in Erscheinung treten.
Mit dieser Vorgehensweise soll einerseits der (in den Einzeldarstellungen zu kurz kommenden) gattungsübergreifenden Vernetzung von Kunstszenen und Diskursen sowie inter- und multidisziplinären Aktivitäten einzelner Künstler entsprochen werden, andererseits aber auch Querverbindungen offengelegt werden, die in der einzeldisziplinären Orientierung häufig unentdeckt bleiben.
Nur eine solche Bündelung und Vernetzung der Perspektiven der unterschiedlichen Fachwissenschaften erlaubt überhaupt eine umfassende Darstellung der weitgefächerten Thematik, kann jedoch letztlich auch nur eine Reihe von Wegweisern in das Terrain der Audiovisualogie setzen.

Eine etablierte Disziplin der Audiovisualogie, wie sie mit dem Titel dieser Publikation behauptet wird, gibt es (noch) nicht: Sie entsteht hier zunächst als Schnittmenge oder vielmehr Summe der in den einzelnen Beiträgen behandelten Themenfelder, wobei das Projekt einen wesentlichen Impuls für ihre weitere Entwicklung setzen will.
In der Gesamtheit der Publikation erweist sich die audiovisuelle Forschung an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technik als eines der großen Experimentierfelder der Moderne, unabgeschlossen und unabschließbar wie das gesamte Projekt des Modernismus. Als Herzstück des Strebens nach Interdisziplinarität und gattungsübergreifender Innovation hinterfragt sie die verschiedenen Werkbegriffe und Wertschöpfungsmodelle der Disziplinen und entzieht sich dabei immer wieder der eigenen Kategorisierung und Kanonisierung.

Dieter Daniels und Sandra Naumann

[1] Der Katalog erscheint unter dem Titel »SEE THIS SOUND. Versprechungen in Bild und Ton« im Walther König Verlag.

[2] Das Symposium SEE THIS SOUND zu Ton-Bild-Relationen in Kunst, Medien und Wahrnehmung findet am 2. und 3. September 2009 im Rahmen der Ars Electronica in Linz statt.

[3] Diese erscheinen unter dem Titel »SEE THIS SOUND. Audiovisuology I. An Interdisciplinary Compendium of Audiovisual Culture« und »SEE THIS SOUND. Audiovisuology II. Histories and Theories of Audiovisual Media and Art« ebenfalls im Verlag der Buchhandlung Walther König.

[4] In den Musikwissenschaften liegen beispielsweise grundlegende systematische Untersuchungen zu den Beziehungen von akustischen und visuellen Künsten vor, so zu den Wechselwirkungen zwischen Musik und bildender Kunst (Helga de la Motte-Haber: Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber 1990) oder zur Geschichte der Farbe-Ton-Analogien (Jörg Jewanski, Ist C = Rot?. Eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zum Problem der wechselseitigen Beziehungen zwischen Ton und Farbe. Von Aristoteles bis Goethe, Sinzig 1999). Aus den Kunstwissenschaften stammen insbesondere profunde Arbeiten zum historischen Wechselverhältnis von Malerei und Musik (Andrea Gottdang, Vorbild Musik. Die Geschichte einer Idee in der Malerei im deutschsprachigen Raum 1780–1915, München–Berlin 2004) oder zu Intermedia (Simon Shaw-Miller, Visible Deeds in Music. Music and Art from Wagner to Cage, New Haven–London 2002). In den Medienwissenschaften entstanden einige umfassende Studien zu medienhistorischen Aspekten der audiovisuellen Künste, unter anderem zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik am Beispiel des Lichtspiels (Anne Hoormann, Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik, München 2003). Die Filmwissenschaft lieferte Beiträge zu einzelnen Epochen, so zum Beispiel Youngbloods zeitgenössische Darstellung des Expanded Cinema (Gene Youngblood, Expanded Cinema, New York 1970) oder James’ Studie zum US-amerikanischen Film der 1960er Jahre (David E. James, Allegories of Cinema. American Film in the Sixties, Princeton 1989) oder einzelnen Ausprägungen des avantgardistischen und experimentellen Films, in denen die Bezugnahme auf musikalische Konzepte ein wesentliches Moment war (Standish D. Lawder, The Cubist Cinema, New York 1975; Malcolm Le Grice, Abstract Film and Beyond, Cambridge 1977).

[5] Dazu zählen unter anderem Sons & Lumières (Centre Pompidou 2004), Visual Music (MOCA/Hirshhorn 2005) oder Sound of Art (Museum der Moderne 2008).

[6] Diese Essays erscheinen als zweiter Band der Print-Publikation unter dem Titel »SEE THIS SOUND: Audiovisuology II: Histories and Theories of Audiovisual Media and Art«.